Türchen Nummer 2

Tina zog an ihrem Schal und wippte ungeduldig auf den Zehenspitzen hin und her. Der nasskalte Wind drang bis unter ihre dicke Winterjacke, und auf ihrer Stirn sammelten sich Regentropfen.
Über die digitale Anzeige an der Bushaltestelle lief hartnäckig der Schriftzug: "Verspätungen auf allen Linien aufgrund erhöhten Verkehrsaufkommens".
Ich hasse Weihnachten, dachte Tina und warf den anderen Wartenden einen bösen Blick zu. Jeder zweite trug riesige Papiertaschen und Einkaufstüten mit sich herum. Ein Kind im Buggy klebte Zuckerwatteflocken an der Mantel eine Dame mit Hund. Die Mutter sprach aufgeregt in ihr Handy. Ein Mann mit Stock suchte Schutz unter dem schmalen Dach des Unterstandes. Er blickte grimmig drein, weil ihm dort der Rauch einer Zigarette ins Gesicht geblasen wurde.
Im Rücken hatte Tina den Weihnachtsmarkt. Besser gesagt, eine kleine Ansammlung von Buden, in denen Süßkram, Bratwürste und Papiersterne verkauft wurden. Aus einem Lautsprecher dudelte Weihnachtsmusik.
"Linie M23 - 12 Minuten". Immerhin, endlich eine konkrete Anzeige. Von dem Gedanken, sich noch eine knappe Viertelstunde die Beine in den Bauch zu stehen war Tina zwar nicht angetan. Trotzdem war es immerhin ein Hoffnungsschimmer.
Eine Böe fegte nasse Plastiktüten über den Gehweg und klatschte dem Mädchen Regen ins Gesicht.
"Leise rieselt der Schnee..." sang das liebliche Stimmchen aus dem Lautsprecher. "... weihnachtlich glänzet der Wald. Freue dich, ´s Christkind kommt bald."
Genervt fummelte Tina an dem Kabel in ihrer Jackentasche und stopfte sich den Kopfhörer ins Ohr. Just in diesem Moment verabschiedete sich der Akku ihres Handys mit einem Brummen, und das Display wurde schwarz.
"... Sorge des Lebens verhallt, freue dich, ´s Christkind kommt bald."
Tina fluchte leise. Bis sie zuhause war, würden noch mindestens fünfundvierzig Minuten vergehen. Fünfundvierzig Minuten im Regen, oder in einem überfüllten Bus, in dem es nach nassem Hund riechen würde. Und das ohne Musik und Nachrichten. Dafür wollte dieses komische Weihnachtslied jetzt der Soundtrack ihres Lebens werden.
"... Hör nur wie lieblich es schallt, freue dich, ´s Christkind kommt bald."
Tina versuchte sich zu erinnern, wann sie aufgehört hatte, an den Weihnachtsmann zu glauben. Vermutlich damals, als sie drei war und Papa vergessen hatte, den Rauschebart abzunehmen, als er Streit mit Mama anfing.
Mit einem Kopfschütteln versuchte Tina den Gedanken zu verscheuchen, aber da war er nun. Der Weihnachtsfrust. Von wegen Schnee und Harmonie und verhallende Sorgen. In Wirklichkeit war Weihnachten doch nur Regen, Stress und verdrängte Konflikte, die genau dann eskalierten, wenn die Gans angeschnitten wurde.
Da hatte es noch nie geholfen, dass angeblich das Christkind bald kam. Zumindest war es nie bei ihr aufgetaucht. Inzwischen strichen Geigentöne an Tinas Ohr vorbei, irgendein anderes Lied mit festlicher Stimmung. Christkind. In welchem Zusammenhang stand das eigentlich noch mal mit dem Weihnachtsmann? War das geflügelte Wesen mit Löckchen, Babygesicht und Heiligenschein Santas Helfer oder sein Chef?
"Linie M23". Es waren höchstens vier Minuten vergangen seit der letzten Anzeige, aber da kam tatsächlich der Bus angefahren. Mit leisem Quietschen hielt das Gefährt an der Haltestelle, und ein Schwall von Menschen ergoss sich auf den Bürgersteig. Tina drängte sich gegen den Strom in Richtung Einstiegstür. Zu ihrer Überraschung fand sich ein Sitzplatz im oberen Stock. Sie ließ sich auf die grau melierte Bank fallen und atmete erleichtert auf. Der Bus setzte sich in Bewegung, nur um gleich darauf an der Ampel wieder stehen zu bleiben.
Tinas Blick glitt über die Ansammlung von Holzbuden, Menschen und Autos draußen im Regen.
"Freue dich, ´s Christkind kommt bald."
Gerade, als die Ampel auf Grün sprang, fing sich Tinas Blick an einer kleinen Szene mitten im Verkaufsgewusel. Sie blinkte und glitzerte nicht. Sie hatte kein Lebkuchendach, und war nicht einmal mit einer Lichterkette geschmückt. Genau genommen war sie noch nicht einmal richtig aufgebaut.
Der Bus bog auf die linke Fahrspur, und Tina verlor die Szene aus den Augen.
Doch das Bild brannte sich in ihr Herz.
Es tat ihr weh, und es machte sie heil.
Die Holzlatten auf dem nassen Asphalt. Der Mann aus Holz, müde gegen eine Bretterwand gelehnt. Die Mutter, von deren blauem Holzgewand Wasser troff. Und das Baby.
Es lag mitten in Wind und Wetter, die nackten Arme in die Luft gestreckt, glänzend vom Regen.
Was Tina weh tat, das war die Kälte. Die Grausamkeit, dieses Baby ohne Decke, ohne Dach  in einem Holzgestell auf den Marktplatz gestellt zu sehen.
Was sie heil machte, das waren seine Augen.
Das Baby hatte sie angeschaut. Nicht ängstlich, nicht verfroren, nicht vorwurfsvoll, wie sie es erwartet hatte. Nicht enttäuscht über die Nachlässigkeit, mit der es behandelt wurde.
In ihrem Herzen hallte sein Blick nach.
Dieses Baby war das echte Christkind.
Sein Blick war voller Liebe.

Leise rieselt der Schnee, still und starr ruht der See.
Weihnachtlich glänzet der Wald. Freue dich, ´s Christkind kommt bald.

In den Herzen ist´s warm, still schweigt Kummer und Harm.
Sorge des Lebens verhallt. Freu dich, ´s Christkind kommt bald.

Bald ist Heilige Nacht. Chor der Engel erwacht.
Hör nur wie lieblich es schallt. Freue dich, ´s Christkind kommt bald.

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